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Einführung

0-1: Übersicht

Thematik

Wie erscheinen, «entstehen» Bilder? Erzeugte Bilder? Welche Eigenschaften, Strukturbildungen und Entwicklungstendenzen lassen sich in frühen graphischen Äusserungen beobachten? Sind frühe Bilder Produkte oder Prozesse? Sind frühe Bildmerkmale innerhalb einer bestimmten Kultur allgemein oder aber individuell? Sind frühe Bildmerkmale unabhängig oder abhängig von einem bestimmten kulturellen Kontext? Worin besteht frühe bildhafte Erkenntnis und Ästhetik? Auf welche allgemeinen Bestimmungen von «Bild» oder «Bildern» verweist die Bildgenese? Auf welche allgemeinen Aspekte des frühen symbolischen Verhaltens verweisen frühe Bilder?

Diesem Fragenkomplex widmet sich seit 1999 unsere Forschung an der Zürcher Hochschule der Künste ZHdK (vormals Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich hgkz). Hintergrund und Motivation bildet die Erkenntnis, dass verlässliche und empirisch breit abgestützte Kenntnisse zur Frühzeit der Genese von Bildern bis heute weitgehend fehlen.

Unsere Forschung fragt in erster Linie nach den frühesten bildhaften Eigenschaften, Strukturbildungen und Entwicklungstendenzen in Zeichnungen und Malereien von Kindern im Vorschulalter, in der Alltagssprache häufig als «Kritzeleien» bezeichnet. Von entsprechenden Feststellungen erhoffen wir, dass sich allgemeine Thesen zur Frage der frühesten bildhaften Erkenntnisvorgänge – in der Literatur auch «ikonische» Erkenntnisse genannt – und mit ihnen zur Frage des frühen ästhetischen Verhaltens ableiten lassen.

Als erstes Ergebnis legen wir hiermit eine Untersuchung von Bildeigenschaften, Strukturbildungen und Entwicklungstendenzen vor, wie sie anhand «fertiger» Zeichnungen und Malereien von Kindern aus Europa beobachtet werden können. Die Untersuchung lässt die beiden Fragen offen, welche Rolle der frühe zeichnerische oder malerische Prozess einnimmt und in welchem Zusammenhang frühe Bilder mit dem umgebenden kulturellen Kontext stehen.

Dass wir ausschliesslich graphische Äusserungen von Kindern untersuchen, die Bildentstehung und frühe Bildentwicklung also aus ontogenetischer Sicht angehen, liegt – abgesehen von unseren Anliegen im Hinblick auf die Ästhetische Bildung – an derzeit fehlenden Funden der Frühgeschichte. Die bis heute überlieferten prähistorischen Bilder stellen mit wenigen und schwer interpretierbaren Ausnahmen einen bereits sehr entwickelten Stand an zeichnerischen und malerischen Fähigkeiten und mit ihnen an graphischen und ästhetischen Eigenschaften dar, die hinsichtlich der graphischen Anfänge nicht als sehr frühe Manifestationen bezeichnet werden können. Es ist diese Lücke in der kulturellen Überlieferung, die zu einer zumindest vorläufigen Gleichsetzung der Untersuchung früher Bilder mit der Untersuchung früher Kinderzeichnungen führt. Damit entsteht aber die Gefahr eines thematischen Missverständnisses. Die genannte Gleichsetzung wird vollzogen, um eine empirische Untersuchung überhaupt zu ermöglichen. Dennoch steht nicht das «Kindliche» der Zeichnungen und Malereien, sondern die «unterste» Struktur des Graphischen und des ihm entsprechenden Ästhetischen im Vordergrund. (Es ist für das Verständnis der Thematik wie des Forschungsgegenstandes wesentlich, die allgemeine Frage nach der frühen Struktur des Graphischen zu unterscheiden von derjenigen ihrer Manifestation in der Kinderzeichnung. Insbesondere betrifft Erstere die strukturelle Grundlage des Graphischen und damit des Bildhaften selbst und noch nicht deren psychologische Ausdeutung, weder entwicklungs- noch tiefenpsychologisch.)

Empirische Untersuchung

In den Jahren 1999 bis 2007 führten wir im Rahmen dreier Teilprojekte eine umfangreiche empirische Untersuchung von Bildeigenschaften, Strukturbildungen und Entwicklungstendenzen früher graphischer Äusserungen europäischer Kinder (Schweiz, Frankreich und Deutschland) durch. Diese Studie bestand im Wesentlichen aus folgenden Teilen:

Als Ergebnis dieser Untersuchungen liegen nun vor:

Ausrichtung

Bilder mit Worten zu beschreiben, auf welche hin sie nicht erzeugt wurden, ist an sich ein schwieriges Unterfangen. Im besten Falle kann man zu Feststellungen von Sachverhalten gelangen, welche anhand eines visuellen Nachprüfens plausibel werden können, Thesen formulieren lassen und Erklärungen anbieten. Die Aspekte der Genauigkeit und Vollständigkeit während des Vorgehens der Beschreibung sind dabei schwer einschätzbar, Objektivierungen sind nur teilweise möglich, und die Zuordnung von Eigenschaften zu Bildern stellt grundsätzlich einen Akt der Interpretation dar.

Dies gilt in ganz ausgeprägtem Masse für frühe graphische Äusserungen von Kindern: grosse Mengen von Bildern, deren Formensprache von den Erwachsenen ausserhalb einer eigentlichen Forschung selten bewusst differenziert wird und deren Bedeutung entsprechend unklar bleibt. Die alltagssprachliche Bezeichnung deutet auf diesen Sachverhalt hin, werden doch solche Äusserungen in der Regel «Kritzeleien» genannt.

Für eine empirische Untersuchung ist es deshalb notwendig, sowohl das Verbale wie das Visuelle zu untersuchen, zu klären und offenzulegen. Das Verbale untersuchen heisst, diejenigen Merkmale zu bestimmen und zu benennen, welche man für die Beschreibung der Bilder verwendet, mit eingeschlossen die Zuordnungsregeln, welche man für die Beschreibung festlegt. Das Visuelle untersuchen heisst, das Auftreten von Merkmalen an aussagekräftigen Bildzusammenstellungen festzustellen und davon allgemeine Aussagen abzuleiten.

Für die Untersuchung wie die nachfolgende Offenlegung der Ergebnisse nimmt die Reproduktionstechnik eine zentrale Stellung ein, weil sich das Studium früher graphischer Äusserungen auf eine sehr grosse Zahl von Einzelbeispielen beziehen muss. Bis vor kurzem war dies nur anhand des Originalmaterials oder anhand fotografischer Reproduktionen möglich. Die entsprechende Organisation war deshalb jeweils ausserordentlich aufwendig, die Zahl empirischer Studien in der Folge beschränkt, und Zuordnungen von Merkmalen zu Bildern waren in der Regel für Dritte nicht nachvollziehbar und also auch nicht kritisch zu würdigen. Dies erklärt zu einem wesentlichen Teil den Mangel an empirischen Grundlagen. Erst mit der Technik der digitalen Bildverarbeitung ist es möglich geworden, eine grosse Zahl von Originalen zu reproduzieren, den Aufwand von Organisation und Klassifikation drastisch zu senken und Bildersammlungen mit den jeweiligen Klassifikationen vollständig zu veröffentlichen. Die digitale Form von Bildern stellt also eine neue Untersuchungsmöglichkeit dar, innerhalb deren die Frage der empirischen Grundlagen in ganz anderer Weise als früher angegangen werden kann.

Auf diesem Hintergrund sollte deutlich werden, worauf wir unsere gesamte Forschung ausrichten: auf aussagekräftige, vollständig zugängliche und veröffentlichte umfangreiche Bildersammlungen, die den Rang einer empirischen Referenz einnehmen und an welcher sich verschiedene theoretische Bemühungen gegenseitig treffen können.

Die erste von uns hiermit veröffentlichte Dokumentation bezieht sich auf die Darstellung der frühen graphischen Entwicklung, wie sie innerhalb des «westlichen» Kulturbereichs beobachtet werden kann. Die Veröffentlichung ist in drei Bände gegliedert, welche nachfolgend erläutert werden.

Band 1 – Eigenschaften und Entwicklung

Band 1 bietet eine Darstellung der Untersuchung als Ganzes, insbesondere aber der Ergebnisse der durchgeführten Längs- und Querschnittstudien sowie der daraus abgeleiteten allgemeinen Struktur der frühen graphischen Entwicklung. Der Band ist in eine Einführung und sechs inhaltliche Bereiche gegliedert:

Für den erstmaligen Einstieg sei auf die Erläuterungen zu den möglichen Vorgehensweisen und Arten der Nutzung in der Einführung (Kapitel 0-3) verwiesen. Die digitale Version dieses Textes, welche der Band 2 mit einschliesst, bietet zudem einen Assistenten (siehe Hilfemenü) sowie Möglichkeiten zur Anpassung der allgemeinen Erscheinungsweise (Hintergrundfarbe, Schriftgrösse, Platzierung).

Band 2 – Bildarchiv Europa und Materialien

Im Zentrum des zweiten Bandes steht das gesamte digitale Bildarchiv, welches die Grundlage der vorliegenden empirischen Untersuchung bildet. Das Archiv setzt sich wie folgt zusammen:

Das Archiv gliedert sich in folgende inhaltliche und funktionale Bereiche:

Für den erstmaligen Einstieg in das Bildarchiv sei auf das Hilfemenü (Assistent, Suchhinweise) sowie die Möglichkeiten zur Anpassung der allgemeinen Erscheinungsweise (Hintergrundfarbe, Schriftgrösse, Platzierung) verwiesen.

Neben dem Bildarchiv enthält dieser zweite Band auch alle Abbildungen und Tabellen, auf welche im Text des ersten Bandes verwiesen wird (zur Übersicht siehe die entsprechende Aufstellung im Anhang). Um zusätzlich die Erläuterungen des ersten Bandes direkt mit den Bildern und den Analysen verbinden zu können, ist auch der Text des ersten Bandes in digitaler Form beigefügt, zusammen mit einer entsprechenden Benutzeroberfläche.

Erläuterungen, Illustrationen und Ergebnisse von Analysen sind derart zirkulär miteinander verbunden: Band 1 und Band 2 erlauben es, von der Lektüre des Textes auszugehen und entweder direkt einzelne Bilderserien zur Illustration aufzurufen oder aber Abbildungen und Tabellen einzelner Analysen einzusehen. Auch von Letzteren kann direkt auf relevante Zusammenstellungen von Bildern im Archiv zugegriffen werden.

Band 3 – Beschreibende Methode

Die methodischen Aspekte, wie sie in Band 1 erscheinen, stellen überblicksartige Zusammenfassungen dar. Die für einen kritischen Nachvollzug sowie für zukünftige Studien nötigen Erläuterungen aller methodischen Einzelheiten erwiesen sich als derart umfangreich, dass sie in einen eigenständigen dritten Band ausgegliedert werden mussten. Dieser dritte Band besitzt folgende Gliederung: