Europa
Die vorliegende Studie versucht, begriffliche und methodische Anforderungen wahrzunehmen, die einem wissenschaftlichen Anspruch nachkommen, und einzelne Beobachtungen in verallgemeinerbare, vollständig nachvollziehbare und also wiederholbare Befunde zu überführen. Die Beschreibung der frühen Eigenschaften, Strukturbildungen und Entwicklungstendenzen des Graphischen, wie sie als Ergebnis aus der Studie hervorgeht, bietet nun Anlass zu einer Klärung und Neuorganisation der bisherigen empirischen Grundlagenkenntnisse und zu einer Prüfung der bisherigen Interpretation des frühen bildhaften Geschehens.
Die erste Klärung, welche ansteht, betrifft die sprachliche Ausdrucksweise. «Kritzelei» mag als Wort in der Alltagssprache einen Sinn haben, wenn auch häufig den falschen Sinn, weil negativ gefärbt und mit «blosser Motorik», «unbewusst» und «zufällig» assoziiert. Als Begriff für das frühe bildhafte Geschehen higegen eignet sich der Ausdruck nicht. Er ist nirgends in verbindlicher Weise bestimmt und bietet sich als brauchbare Bezeichnung für das tatsächliche Geschehen als Ganzes auch dann nicht an, wenn man ihn als technischen Ausdruck definieren würde. Zu undeutlich ist er mit der bildhaften Absicht, der formalen Differenzierung, jeder Art von Bedeutung, und umgekehrt zu eng mit unterschwellig oder offensichtlich abwertenden Reflexen verbunden. Dazu zwei bewusst nicht aus dem europäischen Kulturbereich ausgewählte Beispiele: In den ländlichen Gegenden Südindiens bezeichnen viele Erwachsene die Tätigkeit des Zeichnens und Malens der Kinder als «schreiben», weil sie Papier und Stifte mit der Schule und dem Schreibenlernen assoziieren und eine eigenständige bildhafte Tätigkeit von Kindern weder anerkennen noch bezeichnen. In den Bergen von Bali (Indonesien) bestraften viele Eltern und Grosseltern noch bis vor kurzer Zeit ihre Kinder, wenn diese vor der Schulzeit Papier und Stifte nutzten. Ein solches Verhalten galt grundsätzlich als «ungehörig». – Doch es versteht sich: Verbindliche Begriffe zur Bezeichnung der hier erörterten Erscheinungen sind nötig, und wenn der Ausdruck «Kritzelei» sich nicht eignet, muss er ersetzt werden. Wie aus den vorangehenden und auch aus den nachfolgenden Erläuterungen offensichtlich wird, bieten sich dafür unserer Auffassung nach nur die beiden Ausdrücke «graphische Äusserung» und «Bild» (im Sinne von «erzeugtem Bild») an. «Graphische Äusserung» ist als Bezeichnung umfassender, weil mit dem Ausdruck sowohl die Tätigkeit als auch das Erzeugnis benannt werden können. «Bild» ist als Bezeichnung dann sprachlich vorzuziehen, wenn mit dem Ausdruck das Erzeugnis als solches benannt werden soll. Zugleich eröffnet ein solcher sprachlicher Gebrauch auch eine verbindliche Bestimmung von «bildhaft» und «Bildgenese». – Eine begriffliche Setzung dieser Art hebt sich allerdings vom Sprachgebrauch eines gewichtigen Teils der bestehenden Literatur ab. Insbesondere erscheinen in ihr die Ausdrücke «Bild» und «Abbild» häufig als Synonyme, was dazu führt, dass nicht-abbildende graphische Erzeugnisse, und mit ihnen entsprechende Zeichnungen und Malereien, nicht als Bilder verstanden werden. Die derart entstehenden Unterscheidungen sind aber unserer Auffassung nach dem Graphischen als Ganzem nicht angemessen und führen zu unüberwindbaren Schwierigkeiten, verbindliche Bezeichnungen zu setzen, mit deren Hilfe die hier anstehenden Erscheinungen beschrieben und verstanden werden können. (Dies gilt im Übrigen nicht nur für die Ontogenese, sondern auch für die Phylogenese.) Auch dazu ein Beispiel: Wie sollen wir ein Erzeugnis benennen, wenn dieses so genannt «gegenstandsanaloge» Anteile besitzt, aber auch so genannt «abstrakte» Anteile, ja vielleicht auch «expressive» oder «indexikalische» und einige Aspekte «zeichnerisch» heissen sollen, andere «malerisch» und so weiter? Solche Erzeugnisse sind in der Frühzeit des Graphischen, wenn die ersten Analogiebildungen erscheinen, eher die Regel als die Ausnahme. Wie ja, auch unabhängig von der Bildgenese, unübersehbar viele Bilder, um unsere eigene Ausdrucksweise aufzunehmen, nicht auf jeweils nur ein Prinzip wie «figurativ», «abstrakt», «zeichnerisch», «malerisch» und so weiter zurückgeführt werden können, sondern mehrere solche Aspekte gleichzeitig aufweisen.
Die zweite Klärung betrifft die Trennung von Beschreibung und Erklärung. Es ist in der Literatur zur anstehenden Thematik häufig zu beobachten, dass diese beiden Bereiche vermischt erscheinen, was die mögliche kritische Spannung zwischen ihnen verhindert. Gerade diese Spannung aber ist aufzusuchen. Die Beobachtung, dass ein bestimmtes Merkmal in individueller oder allgemeiner Weise zu einer bestimmten Zeit auftritt, verbunden mit der Sorgfalt, eine solche Beobachtung methodisch sowohl wiederholbar anzulegen wie nachvollziehbar zu machen, ist nicht das Gleiche, wie die beobachtete Erscheinung herzuleiten. So ist auf eher einfache Weise festzustellen, in welchem Alter erstmals spiralartige Linien erscheinen, doch wird damit in keiner Weise deutlich, ob diese Erscheinung einen direkten Ausdruck einer motorischen Differenzierung oder aber einen Ausdruck eines formalen Akts, welcher das Motorische grundsätzlich übersteigt, darstellt.
Die dritte Klärung betrifft Bildmerkmale und Regeln der Bildbeschreibung. Eine empirische Untersuchung, welche den Anspruch auf sich nimmt, zentrale und allgemeine Eigenschaften, Strukturbildungen und Entwicklungstendenzen früher Bilder in nachvollziehbarer Weise zu erarbeiten und zu dokumentieren, muss sich auf einen ebenso nachvollziehbaren Katalog von Bildmerkmalen beziehen, verbunden mit den ihnen entsprechenden Regeln ihrer Zuordnung. Dieser Katalog muss einerseits bereits bestehende Merkmallisten kritisch würdigen, und er muss andererseits in einer Weise systematisch aufgebaut sein, dass er für kommende Studien erweitert beziehungsweise ausdifferenziert werden kann, ohne grundsätzlich in Frage gestellt werden zu müssen. Der in der vorliegenden Studie entwickelte Katalog soll dafür eine robustere und verlässlichere Grundlage bieten, als dies bisherige Kataloge zu leisten vermögen.
Die vierte Klärung betrifft den Nachvollzug empirischer Befunde. Wie verständlich ausformuliert ein Merkmalkatalog und die mit ihm verbundenen Regeln der Zuordnung von Eigenschaften zu Bildern auch ist, die Zuordnung selbst ist ein Akt der Interpretation und muss als solcher nachvollzogen werden können. In der Folge reicht es nicht aus, nur die Ergebnisse einer empirischen Untersuchung zu veröffentlichen. Die untersuchten Bilder und die ihnen im Einzelnen zugeordneten Bildmerkmale müssen gleichermassen einsehbar sein. Ohne die Möglichkeit eines vollständigen Nachvollzugs, von der einzelnen Interpretation zur Ableitung einer allgemeinen Struktur und wieder zurück, kann sich ein verbindliches Grundlagenwissen nur in ungenügender Weise entwickeln. Auch in Hinsicht auf die Anlage, welche nötig ist, einen vollständigen Nachvollzug zu ermöglichen, bietet die vorliegende Studie eine robuste Grundlage.
Die fünfte Klärung betrifft die Darstellung der frühen graphischen Struktur selbst, wie sie aus den Längs- und Querschnittstudien abgeleitet und im dritten Teil erläutert ist. Ob diese Struktur tatsächlich allgemeinen und repräsentativen Charakter hat und also ihrerseits den Anspruch auf eine Referenz erheben kann, muss noch geprüft werden. Umfang und Form der vorliegenden Studie erlauben aber erst eigentlich eine solche Prüfung und lassen drei Fragen angehen, welche sich in Hinsicht auf einen repräsentativen Wert von Beobachtungen vorrangig stellen:
Eine wichtige Ausdifferenzierung, so lässt sich bereits jetzt feststellen, fehlt allerdings in der vorliegenden Studie. Sie betrifft die Entwicklung der Verhältnisse des Graphischen zu Nicht-Graphischem und ganz besonders die Entwicklung von Analogiebildungen. Zukünftige Studien sollten deshalb diese Entwicklung erneut aufgreifen und vertiefen. Erste Hinweise dazu finden sich in Kapitel 6-4.