Europa
Die für den deutschsprachigen Raum wohl umfangreichste Abhandlung zur Entwicklung von Zeichnung und Malerei stammt von Richter (1987). Auf der Grundlage seines Handbuchs, und sowohl Zusätze von Koeppe-Lokai (1996) und Schoenmackers (1996) wie auch spätere Zusammenfassungen von Richter (1997, 2001) mit einbeziehend, lässt sich die nachfolgende Darstellung ableiten. (Die Untersuchungen von Richter und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zur Kinder- und Jugendzeichnung beziehen sich sowohl auf allgemeine Darstellungen der graphischen Entwicklung wie auf prozessuale und kulturvergleichende Aspekte. Zudem dienen sie auch als Referenzrahmen für das figurative Geschehen von behinderten Menschen.)
Vorausgehend und im Sinne einer Relativierung der nachfolgenden Aussagen sei aber das folgende Zitat aufgeführt: «Allerdings haben, betrachtet man die Berge Literatur zur Kinderzeichnung, erstaunlich wenig Darstellungen das Kritzelgeschehen selbst zum Gegenstand; meist wird die Beschreibung der Formentwicklung und der Formsystematik während des Kritzelalters zum Ausgangspunkt für die Betrachtung späterer Äusserungen gewählt.» (Richter, 1987, S. 26)
Frühe graphische Äusserungen werden von Richter als «Kritzelereignisse» bezeichnet und lassen sich seiner Auffassung nach vier Gruppen zuordnen. Die den Gruppen entsprechenden Merkmale treten zwar zeitlich nacheinander auf, bestehen aber im Laufe der Entwicklung auch nebeneinander und in gegenseitiger Beziehung:
Hinzu kommt ein vom Autor zusätzlich ausgeführter Aspekt sowie die erste dem «Kritzeln» nachfolgende «darstellende» Phase:
An diese Entwicklung früher graphischer Äusserungen schliesst dann, im fünften Lebensjahr, die so genannte «Werkreife» oder Phase des Darstellungsschemas.
Hintergrund der Erläuterungen von Richter bildet seine allgemeine Auffassung einer dreiteiligen graphischen Entwicklung:
Der Autor versteht diese Dreiteilung auch als:
«Wir würden damit den Beobachtungen gerecht, dass sich einige Zeit vor dem Schuleintritt ein Reservoir an Darstellungselementen und Motiven entwickelt hat (Bühler: Werkreife), das in der nachfolgenden Zeit – bis etwa zum achten Lebensjahr – ausdifferenziert und individualisiert wird, um dann in den Jahren der späten Kindheit / des frühen Jugendalters an die vorliegenden kulturellen und subkulturellen Vorbilder angepasst zu werden.» (Richter, 2001, S. 33)
Ab fünf Monaten
Schmieren, Sudeln, Klecksen, Ess-Matschen, Kotspuren als erste Zeichenformen gehen nach Richter den graphischen Äusserungen voraus und gehören zu den frühesten «Objektivierungen» von Kindern. Voraussetzung dazu bildet die Reifung der Motorik zur Ausführung einer Geste aus dem Arm heraus.
In die Äusserungen des Schmierens gehen Erlebnisinhalte und Affektqualitäten mit ein, welche in einer unmittelbaren Beziehung zum Körpererleben des Säuglings oder Kleinkindes stehen, wobei die Skala der Affektäusserungen von Freude und Glück (beispielsweise über die Dauerhaftigkeit dieser Spuren) bis zu Wut und Angst reichen kann. Die Äusserungen können gemäss Autor bereits als frühe aktionale Repräsentationen verstanden werden, da sie auf diese allgemeinen, primären oder fundamentalen Affekte verweisen (in Abhebung zu späteren organisierten Formen von Affekten mit entsprechenden psychomotorischen Mustern).
«Das Kleinkind praktiziert den fundamentalen graphischen Akt im Sand, im Schlamm oder auf einem vollen Teller – sehr zum Missfallen seiner Eltern. Gibt man ihm ein Schreibgerät, dann betätigt es sich, sobald es den Stift halten kann, an erlaubten Oberflächen.» (Gibson, 1982, zitiert in Richter, 1997, S. 22)
Ab acht Monaten (in der Literatur gemäss Autor meist ab zwölf Monaten)
Die ersten graphischen Äusserungen im engeren Sinne, welche in der Regel auf Papier erscheinen, sind nach Richter wie folgt zu charakterisieren:
Hinsichtlich einer Bedeutung oder Repräsentation verweist der Autor auf zwei mögliche Beziehungen des Graphischen:
Voraussetzung graphischer Gebärden bildet das Greifen als motorische Fähigkeit, mit einem Stift eine Spur auf Papier zu hinterlassen.
«Sie [früheste graphische Äusserungen, A.d.A.] unterscheiden sich von den Schmierobjektivationen durch die Verwendung spurgebender Materialien wie Bleistift, Kugelschreiber, Farbstift, Pinsel, Kreide etc. und spurwiedergebender Dokumente wie Papier, Schiefertafel usw. Neben die frühesten Ausdrucksmittel Hand und Wand treten also um die Wende zum zweiten Lebensjahr die kulturgebundenen / zivilisationsgebundenen Mittel Bleistift (i.w.S.) und Papier.» (Richter, 1987, S. 26. Bemerkenswert ist die unterschiedliche Verwendung des Ausdrucks «graphisch» von Gibson und Richter in den beiden in diesem Kapitel wiedergegebenen Zitaten.)
Ab 18 Monaten
Die zweite Phase graphischer Äusserungen auf Papier ist geprägt von:
Graphische Gesten manifestieren sich in einer zeitlichen Abfolge:
Hinsichtlich einer Bedeutung oder Repräsentation verweist der Autor auf die Erweiterung beziehungsweise Differenzierung von Beziehungen zu emotionalen und motivationalen Aspekten sowie zu Vorläufern von Darstellungen:
Diese Phase entspricht gemäss Richter entwicklungspsychologisch dem Übergang von sensomotorischen zu operatorischen (begrifflich kognitiven) und figurativen (bildhaften) Handlungskonzepten, die von Vorstellungen begleitet werden.
Richter zitiert Wallon in der Einschätzung dieses Abschnitts als Zeit der ersten Zeichnungen: «Die Zeichnung kann nur entstehen, wenn die Spur oder die Linie das Motiv der Gebärde wird, selbst dann, wenn sie als zufällige begonnen hätte. Es muss eine Rückwirkung der Wirkung auf die Ursache geben. Die Wirkung muss ihrerseits Ursache werden.» (Wallon, 1950, zitiert in Richter, 1987, S. 34)
Den Ausdruck «gestische Repräsentation» entlehnt Richter von Wolf (1987; vgl. auch Wolf und Perry, 1988).
Ab ca. 30 Monaten
Zeichnungen von Kindern im Alter von ca. drei Jahren stellen nach Richter Mischungen aus Darstellungsanteilen und Kritzelelementen oder gegenständlich schwer deutbaren Figurationen dar, wobei eine umfassende Bildorganisation noch fehlt. Mit Hilfe produktiver Kombinationen entstehen aus wenigen Grundelementen quasi-«gegenstandsanaloge», für Aussenstehende aber nur zum Teil deutbare Figurationen wie:
Gleichzeitig lässt sich eine erste «Schematisierung» als Wiederholung bestimmter Darstellungsarten und zugleich als Verfestigung eines Bestands verwendeter Formen und ihrer Kombinationen beobachten.
Die Bezeichnung «Konzeptkritzel» für diese letzten Erscheinungen der Kritzelphase soll verdeutlichen, dass sich in den entsprechenden graphischen Konfigurationen immer noch eine Distanz zwischen den zeichnerischen Realisationen von bildhaften Vorstellungen und diesen Vorstellungen selbst zeigt. «Die Realisationsfähigkeiten entsprechen in diesem Alter wohl am wenigsten den Realisationsmöglichkeiten. Man braucht sich ja nur zu vergegenwärtigen, was ein dreijähriges/vierjähriges Kind im sprachlichen Ausdruck darzustellen vermag, um diese These zu akzeptieren» (Richter, 1987, S. 35).
(Zu beachten: Richter bezeichnet das dritte und den Beginn des vierten Lebensjahres als Altersbereich der Konzeptkritzel. Schoenmackers (1996) verweist darauf, dass gemäss Fachliteratur die geschlossene Form in der Regel mit drei Lebensjahren auftritt. Diese aber ist noch zu den Gestenkritzeln zu zählen. Weil die Angabe von Richter nur vage ist, haben wir in Berücksichtigung des Hinweises von Schoenmackers den Beginn des Altersabschnitts der Konzeptkritzel mit ca. 30 Monaten angegeben.)
Im vierten Lebensjahr
Die frühesten Ereignisse mit Darstellungscharakter, welche in der Phase der Konzeptkritzel auftreten, bilden zugleich den Übergang vom Kritzeln zu Zeichnungen mit stabilisierter Bildorganisation. Zu diesen Erscheinungen des Übergangs zählt der Autor vor allem die Kopffüssler, aber auch erste Tier-, Haus- und Baumdarstellungen. – Betrachtet man den Darstellungscharakter dieser Erscheinungen, so sind sie zwischen der «beigefügten Bedeutung» und der realisierten Darstellung anzusiedeln.
Um ca. 48 Monate
Mit dem Einsetzen einer durchgängigen «gegenstandsanalogen» Organisation der Zeichnung, welche Richter als «Geburt des Bildes» bezeichnet, endet die Kritzelphase. Der Bereich von Merkmalen einer solchen Gesamtorganisation, auf welche hin die Zeichnung sich nun ausrichtet, lässt sich wie folgt umschreiben:
«Eine andere Art des Zeichnens hat jetzt begonnen, nämlich das bewusste Bilden von Formen […] Beim Kritzeln war das Kind vor allem in kinästhetische Aktivität verwickelt, nun beschäftigt es sich mit dem Aufbau einer (graphischen) Beziehung zu dem, was es darstellen will.» (Lowenfeld und Brittain, 1967, zitiert in Richter, 1987, S. 45)
«Der Übergang von den frühen figurativen Ereignissen zu den so genannten Schemabildungen im fünften Lebensjahr stellt wohl die interessanteste Phase in der Entwicklung der kindlichen Bildnerei dar. Sie ist gekennzeichnet durch einen Wechsel von den kinästhetischen, relativ einfach strukturierten, aber dynamisch gesetzten Konfigurationen zu selbstentwickelten differenzierten Zeichenkomplexen mit (analogen) Beziehungen zu den (internen) Referenten, die ihrerseits Repräsentationen von Personen und Gegenständen der sichtbaren Welt darstellen.»
«Zwischen dem Ende des Kritzelgeschehens und den ersten repräsentationalen Darstellungen der Schemaphase sind ca. um das Ende des dritten Lebensjahres eine Reihe graphischer Erscheinungen zu beobachten, die in der Literatur unter dem Begriff ‹Übergangsphase› oder ‹Vorschemaphase› beschrieben werden. Es handelt sich dabei um Zeichnungen, in denen Bildorganisationen und Darstellungsmöglichkeiten zwar noch nicht stabilisiert sind, aber das Zeichnen schon mit konkreten Darstellungs- und Mitteilungsabsichten geschieht und so nicht mehr der Kritzelphase zuzuordnen ist. Die charakteristischen Errungenschaften in dieser Übergangsphase sind Verknüpfungen graphischer Elemente in grösseren Zusammenhängen zur Darstellung von Figuren und Gegenständen.» (Koeppe-Lokai, 1996, S. 32f.)
In den Ausführungen von Richter sind Repräsentationen von Darstellungen zu unterscheiden. Erstere umfassen Letztere, nicht aber umgekehrt. Jede («gegenstandsanaloge») Darstellung ist eine Repräsentation, aber nicht jede Repräsentation ist eine Darstellung. Diese Unterscheidung kann zu Unklarheiten führen, weil der zeichentheoretisch ausgerichtete Begriff der Repräsentation häufig synonym zu demjenigen der Darstellung verwendet wird.
Richter bezieht sich in seiner Auffassung der Repräsentation auf eine Definition von Zimmer (1992, zitiert in Richter 1997, S. 36): «Repräsentationen sind Gegebenheiten innerhalb eines (z.B. menschlichen) Informationsverarbeitungssystems, die für Gegebenheiten aus der Umgebung des Systems stehen. Es ist nicht notwendig, dass diese Gegebenheiten bewusst sind oder dem Bewusstsein auch nur prinzipiell zugänglich sind.» Daraus leitet Richter die folgende Interpretation ab:
Die im Laufe der frühen graphischen Entwicklung zu beobachtenden Repräsentationsarten lassen sich gemäss Erläuterungen von Richter wie folgt gliedern:
Bilder versteht und bezeichnet Richter grundsätzlich als «gegenstandsanaloge» Darstellungen: «Analogie zwischen dem darzustellenden Gegenstand / Ereignis und den darstellenden zeichnerischen Objekten aber … ist das Prinzip jeder bildhaften Repräsentation.» (Richter, 1987, S. 32)
Frühe graphische Äusserungen entwickeln sich nach Richter gemäss einer Logik von Spur, Zeichnung und Bild. Am Anfang stehen graphische Gebärden als Spuren, als Abdruck von unkontrollierten und entsprechend undifferenzierten Bewegungen eines Stiftes auf einem Zeichenuntergrund. Aus den Spuren einzelner Gebärden entwickeln sich Gesten als ein Gebärdensystem, wobei die Führung der Linie zunehmend unter den Einfluss der visuellen Kontrolle gerät und das Graphische derart zur Zeichnung wird. Aus der Zeichnung und den in ihr zunehmend ausdifferenzierten, erinnerten und kontrollierten graphischen Einzelformen und Konfigurationen entwickeln sich Analogiebildungen zu Figuren, Gegenständen und Szenen. Wird die Zeichnung schliesslich «gegenstandsanalog» durchorganisiert, wird sie zum Bild.
Auf Grund der vorangehenden Erläuterungen lässt sich das folgende zusammenfassende Schema ableiten. Man beachte dabei, dass der Ausdruck «Repräsentation» als Obertitel synonym zu «Gegenstandsanalogie» oder «Figurative Äusserung» erscheint.
Vorgraphische Äusserungen / Prärepräsentationale Äusserungen / Präfigurative Äusserungen I
Graphische Äusserungen / Prärepräsentationale Äusserungen / Präfigurative Äusserungen II
Graphische Äusserungen / Repräsentationen / Figurative Äusserungen