Europa
Zwar hat sich in der Fachliteratur ein Konsens in Bezug auf grobe Auffälligkeiten von Bildmerkmalen und allgemeine Unterteilungen von Entwicklungsschritten herausgebildet, hingegen fehlt für wichtige Bereiche – und ganz besonders für die graphischen Anfänge – ein solcher Konsens im Hinblick auf eine differenzierte Beschreibung von Bildeigenschaften, Strukturbildungen, Entwicklungsabläufen und ästhetischen Ausdrucksweisen. Sowohl die Frage, welche Formen, Konfigurationen, Motive und Stile sich insgesamt ausdifferenzieren, allgemein als «Typen» auftreten und variiert werden und welche umgekehrt nur in einem individuellen Kontext erscheinen, wie auch die Frage, worin der gegenseitige Zusammenhang von Formen und Konfigurationen im Sinne einer Strukturbildung oder eines Entwicklungsablaufs besteht, lassen sich auf Grund bisheriger Darstellungen nicht allgemein beantworten.
Hinzu kommt, dass es keine verbindlichen und erläuterten Ausdrücke gibt, auf welche sich die verschiedenen Autorinnen und Autoren gemeinsam beziehen würden und auf welche man sich abstützen könnte. Gleichermassen fehlen verbindliche und geklärte Untersuchungsmethoden.
Es ist deshalb zurzeit nur möglich, so haben wir bereits eingangs erwähnt, diejenigen groben Grundzüge darzustellen, welche in der Literatur als Grundlagenkenntnisse im Allgemeinen anerkannt werden. Doch sind auch diese Grundzüge wenig verlässlich, weil sich in ihnen Einzelbeobachtungen und theoretische Konzeptionen vermischen.
Für differenziertere Erläuterungen bleibt nichts anderes übrig, als die Sichtweisen einzelner Autorinnen oder Autoren vorzutragen. Die Problematik der jeweiligen Autorinnen und Autoren ist dabei beinahe durchgängig dieselbe: Eine eigentliche breite empirische und repräsentative Prüfung, deren Ergebnisse nachvollzogen werden könnten, fehlt. An ihrer Stelle werden entweder Beispiele aus Sammlungen vieler Kinder zitiert (vgl. Greig, 2000), deren Auswahl selbst nicht nachvollziehbar ist, oder es werden Beispiele aus Beobachtungen der graphischen Entwicklung einzelner Kinderzeichnungen zitiert (häufig vorgenommen an eigenen Kindern der Autorinnen oder Autoren, in manchen Fällen verbunden mit zusätzlichen Querschnittstudien, vereinzelt als reine Querschnittstudien; siehe als Beispiele Olivier, 1974, Lurçat, 1979, Mosimann, 1979, Gardner, 1980, Nguyen-Clausen, 1987, Matthews, 1999), deren Auswahl ebenfalls nicht nachvollziehbar ist, oder es werden Ergebnisse aus sehr beschränkten und laborartigen Tests zu Hilfe genommen, die sich aber mit wenigen Ausnahmen auf figurative Darstellungen beziehen. (Für ausführliche bibliographische Hinweise sei neben den bereits erwähnten Autoren Widlöcher, 1974, Richter, 1987, 1997, Wallon et al., 1990, Koeppe-Lokai, 1996, Schoenmackers, 1996, Golomb, 2002, 2004, und Greig, 2000, auch auf Naville, 1950, verwiesen.)
In der Folge lässt sich heute zwar feststellen, dass bestimmte Formen und Konfigurationen in der frühen Phase des Zeichnens und Malens auftreten, aber solche einzelnen Feststellungen geben keinen Aufschluss über die Vollständigkeit von deutlich beschreibbaren und häufig erkennbaren Merkmalen und damit über ihren gegenseitigen Stellenwert und ihr gegenseitiges Verhältnis – sie geben keinen Aufschluss über die Systematik der Merkmale. Dies verhindert bis anhin sowohl eine differenzierte Beschreibung der frühen graphischen Struktur wie deren Interpretation insbesondere auf die Frage einer eigenständigen bildhaften Erkenntnis hin.
Eine Ausnahme bilden die Studien und Veröffentlichungen von Kellogg (1959, 1967, 1967/2007, 1970). Die Autorin legt wie oben beschrieben – unserer Kenntnis nach bis anhin als Erste und zugleich Einzige – den Versuch einer systematischen Beschreibung der frühen Struktur des Graphischen vor, welche auf einem hierarchisch gegliederten und strukturierten Katalog von Bildmerkmalen aufbaut und die Merkmale einer breiten empirischen Überprüfung unterzieht, wobei die Empirie (zumindest zum Teil) anhand der Bilder selbst nachvollzogen und kritisch geprüft werden kann. Ihre Analyse versucht in Bezug auf Kritzelelemente (basic scribbles), Platzierungen (placement patterns), Einzelformen oder Diagramme (diagrams), deren einfache und komplexe Zusammensetzungen (combines, aggregates), deren Entwicklung zu ungegenständlichen, meist konzentrischen Mustern oder Formtypen (mandalas, suns, radials) und zu «gegenstandsanalogen» Abbildungen (pictorialism) Festlegungen vorzunehmen und diese in einen gegenseitigen und systematischen Zusammenhang zu stellen. Derart entsteht ein analytisches Instrumentarium zur Beschreibung früher Zeichnungen in der Form eines systematisch organisierten Merkmalkatalogs. Die empirische Grundlage der Autorin bildet eine bis anhin einzigartige Sammlung von über einer Million Bildern, davon ca. die Hälfte in das Korpus an Originalen der «Rhoda Kellogg Child Art Collection» aufgenommen. Ca. 8 000 Bilder dieser Sammlung sind wie bereits erwähnt auf 255 Mikrofichen publiziert (Kellogg, 1967, 1967/2007), als exemplarische Beispiele für die oben genannte Struktur von Bildmerkmalen.
Trotz ausserordentlicher Grösse des Bildarchivs, trotz Offenlegung der Merkmale und trotz umfangreicher Illustrationen vermochte sich hingegen weder die Begrifflichkeit noch die methodische Konzeption für die Beschreibung der frühen Bildmerkmale und Bildstruktur in der Forschung als Standard durchzusetzen. Unserer Ansicht nach spielten dabei drei Aspekte eine entscheidende Rolle:
Zu den dargestellten Mängeln der empirischen Anlagen und Methoden kommt wie oben erwähnt hinzu, dass Herleitungen und Erklärungen der jeweiligen Begrifflichkeiten, die den Hintergrund von Untersuchungen und Merkmalbeschreibungen bilden, weitgehend fehlen:
Angesichts fehlender durchgängiger begrifflicher und methodischer Standards kann es nicht erstaunen, dass auch die bestehenden empirischen Prüfungen wissenschaftlich unbefriedigend sind – klein an der Zahl, schon in ihrer Anlage kritisierbar, häufig aus Einzelfalldarstellungen bestehend, uneinheitlich in ihrer Struktur, häufig nur ungenügend nachvollziehbar (insbesondere sind die zu Grunde liegenden Bildersammlungen nicht zugänglich) sowie in der Literatur in uneinheitlicher Weise zitiert und aufeinander bezogen.
Die Unbestimmtheit der Zeichnung als wissenschaftlicher Gegenstand, das Fehlen begrifflicher und methodischer Standards sowie das Fehlen gesicherter empirischer Grundlagen behindern zurzeit jede theoretische Fundierung von Auffassungen zu den Anfängen und ersten Entwicklungen des (erzeugten) Bildhaften. Gleiches gilt für den damit verbundenen ästhetischen Ausdruck. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, eine Morphologie früher graphischer Äusserungen zur zentralen Thematik entsprechender Forschungsprojekte zu machen. Die folgenden beiden Zitate drücken diesen Sachverhalt mit aller Deutlichkeit aus:
«Das riesige Gebäude von Ausdeutungen, Zuordnungen, Klassifikationen o.ä. steht nur auf einem dürftigen Fundament von gesichertem Wissen über die Abläufe des zeichnerischen Geschehens, die bildnerischen Zusammenschlüsse, die (frühen) Strukturbildungen, die individuellen Varianten von Formen und Themen usw. So muss sich der Eindruck aufdrängen, dass die vorhandenen Informationen immer nur umgedeutet werden, anstatt überprüft, in Frage gestellt und durch neue Erhebungen ergänzt bzw. ersetzt zu werden. Manche der Daten, auf die wir unsere Überlegungen, Beurteilungen und Interpretationen bis heute gründen, wurden in den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts unter völlig anderen sozial-kulturellen Bedingungen und mit unzulänglichen methodischen Mitteln erhoben.» (Richter, 1987, S. 370; siehe ähnliche Einschätzung durch Reiss, 1996, S. 2; siehe auch die Bemerkung von Golomb zur Vernachlässigung der graphischen Anfänge, Golomb, 2004, S. 8.)
«Bemerkenswert unterrepräsentiert sind hingegen Forschungsinitiativen bei Kindern jüngerer Altersstufen, insbesondere bei den Drei- bis Vierjährigen, obwohl dieser Altersabschnitt nach einhelliger Auffassung der Fachautoren als wissenschaftlich besonders interessant eingeschätzt wird, […] Dort, wo aktuellere Erhebungen zur Gewinnung grundwissenschaftlicher Erkenntnisse vorgenommen wurden, erweisen sich die Resultate zumeist als kritisch, weil die Untersuchenden entweder unsystematisch und wissenschaftlich nicht nachvollziehbar angelegt wurden […] oder auf zu kleinen Stichproben beruhen […]. Dieses Datenmaterial lässt folglich keine legitimierbare Deskription des frühen repräsentationalen Zeichengeschehens zu […]» (Schoenmackers, 1996, S. 91/93)
Die Tatsache, dass es bis heute zu keinem differenzierten Stand in Begrifflichkeit, Methodik und empirischer Grundlage zur Frage der Bildgenese (in ontogenetischer Perspektive) gekommen ist, behindert nicht nur die Forschung und die Praxis in der Psychologie und der Erziehung. Sie hat auch dazu geführt, dass die Frage, wie Bilder ontogenetisch gesehen entstehen, weder von der Zeichentheorie noch von der Bildwissenschaft ernsthaft aufgegriffen wurde. Sie ist ebenfalls der Grund dafür, dass in Bezug auf prähistorische Bilder keine wissenschaftlich befriedigende Auseinandersetzung zur Frage des Vergleichs von Ontogenese und Phylogenese stattfindet. Eine sehr differenzierte und verlässliche Erörterung der Bildgenese in den genannten Bereichen der Zeichentheorie, der Bildwissenschaft und der Anthropologie ist aber notwendig zur Klärung einer möglicherweise eigenständigen bildhaften Erkenntnis.
Für das Fehlen von Standards und Referenzen gibt es konkrete Gründe:
Dies erklärt zumindest zu einem gewichtigen Teil das Fehlen robuster Kenntnisse und zugleich auch die Schwierigkeit, zu solchen zu gelangen. Erst mit der Technik der digitalen Reproduktion ist es möglich geworden, eine grosse Zahl von Originalen in hoher Qualität zu reproduzieren, den Aufwand von Organisation und Beschreibung (Klassifikation) der Bilder drastisch zu senken und Bildersammlungen mit den jeweiligen Zuordnungen von Merkmalen vollständig zu veröffentlichen. Die digitale Form von Bildern stellt also eine neue Untersuchungsmöglichkeit dar, innerhalb deren die Frage der empirischen Grundlagen in ganz anderer Art als früher angegangen werden kann.