Europa
Im Zentrum der vorliegenden Untersuchung steht der Versuch, aus dem Vergleich der Längsschnittstudien untereinander und mit der Querschnittstudie eine allgemeine Entwicklung früher graphischer Äusserungen abzuleiten: allgemein zu beobachtende Bildmerkmale und ihre gegenseitigen Verhältnisse als Strukturbildungen aufzulisten und allgemeine Entwicklungsphasen zu interpretieren. Die Einzelheiten dieser Herleitung seien im Folgenden näher erläutert.
Nach der Auswertung jeder Längsschnittstudie für sich wurden alle vier Studien einem gegenseitigen Vergleich unterzogen, im Hinblick auf eine die Längsschnittstudien übergreifende und vereinfachende Gliederung der Ausdifferenzierung und Entwicklung von Bildmerkmalen (siehe Kapitel 4-5-01 und folgende). In einem ersten Schritt wurden dabei Gemeinsamkeiten und Unterschiede für einzelne Gruppen von Bildmerkmalen ermittelt. In einem zweiten Schritt wurde für jeden der beiden Bereiche des Graphischen und der Verhältnisse zu Nicht-Graphischem geprüft, ob eine allgemeine und vereinfachende Gliederung der Ausdifferenzierung und Entwicklung der Bildmerkmale abgeleitet werden kann, mit eingeschlossen die Interpretation von Entwicklungsphasen. Als allgemeine Regel galt dabei, dass die vorgenommene Zuteilung einzelner Merkmale zu jeweils einer interpretierten Phase der Entwicklung mindestens drei der vier Längsschnittstudien entsprechen soll. (Ausnahme bildet die Phase 1, welche anhand der frühesten auftretenden Einzelformen I sowie früh auftretender Platzierungsmuster bei allen Kindern interpretiert wird.) Anhand dieser Prüfung wurde in einem dritten Schritt eine allgemeine Entwicklungsstruktur abgeleitet.
Die Ergebnisse dieses Vergleichs der Längsschnittstudien untereinander wurden abschliessend mit der zusammenfassenden Analyse der Querschnittstudie verglichen, um daraus eine allgemeine graphische Entwicklung abzuleiten. Dabei zeigte sich ein derart hohes Ausmass an Übereinstimmung, dass die Struktur der Querschnittstudie direkt als allgemeine Struktur übernommen wurde. Ihr sind einige Aspekte aus dem Vergleich der Längsschnittstudien beigefügt, welche Differenzierungen betreffen, die in der Querschnittstudie nicht vorgenommen wurden. Die leichten Abweichungen der vergleichenden Analyse der Längsschnittstudie von der Querschnittstudie werden in einem separaten Kapitel erläutert (siehe Kapitel 3-3).
Der Anfang graphischer Äusserungen auf Papier, blosse graphische Spuren ohne jegliche Intention einer Differenzierung, wurde wie erwähnt, nicht in die vorliegende Untersuchung mit einbezogen. Morphologische Untersuchungen sind nicht dazu geeignet, Bildanteile ohne jegliche Formdifferenzierung zu identifizieren (siehe Kapitel 2-3-04). Erfahrungen, wie wir sie in prozessorientierten Studien machen konnten, zeigen aber, dass es Bilder von Kindern gibt, deren graphische Erscheinungen die Folge blossen Handhabens der Stifte darstellen, oft ohne genaueres Hinsehen erzeugt und oft nicht einmal rhythmische Eigenheiten der Motorik aufweisend (Ergebnisse unveröffentlicht). Aus diesem Grund beginnen wir die Darstellung der allgemeinen graphischen Entwicklung, wie sie auf Papier zu beobachten ist, dennoch mit der Nennung von Bildern ohne jegliche Formdifferenzierung.
Auch Punkte wurden grundsätzlich nicht verschlagwortet, weil die Unterscheidung von Schlägen und Punkten allzu häufig nicht vorgenommen werden konnte (siehe Kapitel 2-3-06). Sie sind aber der allgemeinen Struktur beigefügt im Sinne einer Erwartung, dass die Entwicklung vom Schlag zum Punkt in etwa derjenigen vom Strich zur Geraden entspricht.
Die allgemeine graphische Entwicklung, wie sie in den nachfolgenden Kapiteln dargestellt wird, bezieht sich derart auf die numerischen Werte der Querschnittstudie (siehe Datenblatt D5-1-A.xls). Diesen Werten sind speziell markierte Zusätze beigefügt, welche Beobachtungen aus den Längsschnittstudien betreffen.
Die Darstellung der allgemeinen Entwicklung ist derjenigen der Einzelstudien vorangestellt. Auf diese Weise soll ein direkter Überblick und eine ebenso direkte Einsicht in das Hauptergebnis der vorliegenden Studie möglich und die vertiefende Lektüre der Längs- und Querschnittstudien zugleich vorbereitet und erleichtert werden.
Die Interpretation einer allgemeinen graphischen Entwicklung vorzulegen – so sorgfältig sie auch empirisch abgestützt wird –, birgt in sich die Gefahr von Missverständnissen, falschen Auslegungen und problematischen Anwendungen insbesondere in der Praxis der Erziehung und der Psychologie. Deshalb soll an dieser Stelle mit Nachdruck auf einige zentrale, relativierende Aspekte hingewiesen werden.
Es versteht sich von selbst, dass in der erläuterten Herleitung aus den konkreten Einzelstudien viele Vereinfachungen und Verallgemeinerungen unumgänglich waren, insbesondere im Hinblick auf die Ordnung und das zeitliche Erscheinen von Merkmalen und Oberkategorien. In keiner Weise darf diese Ordnung bis ins Einzelne als strenger Massstab für die Beurteilung konkreter graphischer Entwicklungsverläufe einzelner Kinder angewandt werden. In jedem Falle sind Relativierungen, Abweichungen sowie individuelle Eigenheiten und Differenzierungen, wie sie bei der Darstellung der Längs- und Querschnittstudien weiter unten erläutert werden, mit zu bedenken.
Es versteht sich ebenfalls von selbst, dass in der Darstellung der allgemeinen graphischen Entwicklung alle vorgefundenen Bildmerkmale aufgeführt und bestimmten Entwicklungsphasen zugeordnet sind, dass aber in einer konkreten einzelnen graphischen Entwicklung nur ein Teil dieser Merkmale auch tatsächlich auftreten mag und dass sich konkrete Zuordnungen zu entsprechenden Entwicklungsphasen einzelner Kinder nicht in jedem Falle mit der allgemeinen Struktur decken. Es empfiehlt sich deshalb, einzelne Merkmale immer in Zusammenhang mit ihren Oberkategorien zu beurteilen. Wenn sich auch ein Teil der Merkmale in ihrer Ausformulierung und zeitlichen Abfolge in den Entwicklungsverläufen verschiedener Kinder unterscheiden mag, so enthält unsere Studie dennoch robuste Hinweise dafür, dass Auftreten und Abfolge der Oberkategorien weitgehend allgemeinen Charakter besitzen.
Besondere Aufmerksamkeit und Vorsicht sollte dem zeitlichen Auftreten von Bildmerkmalen geschenkt werden. Wie einleitend erläutert, wurde dieses zeitliche Auftreten von der Querschnittstudie übernommen. In der Folge beziehen sich die Angaben für die allgemeine graphische Entwicklung auf die frühesten überhaupt zu beobachtenden Fälle. Die Angaben entsprechen also in keiner Weise einem «Durchschnitt» – wenn denn ein solcher überhaupt sinnvoll zu ermitteln und anzugeben ist. Zugleich trifft es nicht zu, dass bei einem Kind, bei welchem ein bestimmtes Merkmal früh erscheint, alle anderen Merkmale sich ebenfalls früh entwickeln. – Es empfiehlt sich, für alle nachfolgend erscheinenden zeitlichen Angaben in der Darstellung der allgemeinen Entwicklung eine Bandbreite von mindestens 18 Monaten mit zu bedenken.
Konkrete graphische Entwicklungen sind also geprägt von teilweiser Individualität von Bildmerkmalen, unterschiedlicher Qualität ihrer Ausformulierung, teilweiser Variabilität ihrer gegenseitigen Beziehungen als Strukturbildungen sowie zum Teil beträchtlichen Schwankungen des Alters, in welchem sie erscheinen. Alle einfachen Aussagen wie «je früher, je mehr, je abbildender, desto weiter, besser, intelligenter» verweisen darauf, dass solche, die sie äussern, frühe Bilder – und mit ihnen wahrscheinlich Bilder überhaupt – missverstehen.
Wie bereits in der Einführung erläutert, bezieht sich die vorliegende Untersuchung auf Bildeigenschaften, Strukturbildungen und Entwicklungstendenzen, wie sie anhand «fertiger» Zeichnungen und Malereien von Kindern aus Europa – genauer ausgedrückt aus Zentral- und Westeuropa – beobachtet werden können, und lässt die beiden Fragen offen, welche Rolle der frühe zeichnerische oder malerische Prozess einnimmt und in welchem Zusammenhang frühe Bilder mit dem umgebenden kulturellen Kontext stehen. Hinzu kommt ein zu erwartender Einfluss des jeweiligen sozialen und ökonomischen Kontexts auf die frühe graphische Entwicklung, welcher in der vorliegenden Untersuchung ebenfalls nicht ausdifferenziert wird. Auch diese Einschränkungen sind bei der Beurteilung der Entwicklung massgebend mit zu berücksichtigen.
Das erste Wort eines einzelnen oder zusammengesetzten Ausdrucks, welcher ein Bildmerkmal bezeichnet, wird wie in Kapitel 0-5 erwähnt in der Regel grossgeschrieben, um Häufungen von Anführungszeichen zu vermeiden. In diesem dritten Teil wird aber die Schreibweise ausnahmsweise frei gehandhabt und der jeweiligen Erläuterung angepasst. Dadurch soll es möglich werden, einzelne Textpassagen auch ausserhalb des engeren Kontexts dieser Abhandlung zitieren zu können.
Wie in Kapitel 2-4 erläutert, wurden in der Querschnittstudie bestimmte Aspekte zuerst als zusammenfassende Kategorien verschlagwortet und erst nachträglich, in einem zweiten Durchlauf und auf frühe Bilder beschränkt, ausdifferenziert. In der Folge kann die zusammenfassende Kategorie der Einzelformen I im vorliegenden Zusammenhang ignoriert werden. Die «Startwerte», die frühesten Zuordnungen der übrigen zusammenfassenden Kategorien, sind wie folgt zu interpretieren:
Zu beachten bleibt, dass die nachträgliche Verschlagwortung nur die früh auftretenden Differenzierungen betrifft. Später auftretende Merkmale bleiben ohne Differenzierung den zusammenfassenden Kategorien zugeordnet.
Das nachfolgende Kapitel 3-1 stellt die Grundzüge der hier abgeleiteten graphischen Entwicklung im Einzelnen dar. Dabei ist zu beachten, dass für jede Phase jeweils nur diejenigen Bildmerkmale aufgeführt werden, welche neu auftreten. Die neu auftretenden Merkmale ersetzen aber die bereits bestehenden nicht, sondern die Entwicklung als Ganzes erweist sich als eine fortlaufende Erweiterung eines bildhaften Repertoires. Neue Bildmerkmale einer Phase fügen sich also jeweils denjenigen der vorangegangenen Phasen hinzu.
Für jede Phase wird zuerst der Bereich des Graphischen und nachfolgend derjenige der Verhältnisse zu Nicht-Graphischem erläutert. Den Differenzierungen der Merkmale werden dabei zwei zusammenfassende Passagen vorangestellt, die eine als Auflistung der auftretenden Oberkategorien, die andere als Kurzfassung für den anstehenden Bereich (siehe kursive Abschnitte).
In Kapitel 3-2 wird die allgemeine Entwicklungsstruktur ein zweites Mal, nun in der Form gegliederter Listen, dargestellt.
In Kapitel 3-3 werden Abweichungen von der Entwicklungsstruktur, wie sie in den Längsschnittstudien beobachtet werden können,
aufgeführt und diskutiert.
Das abschliessende Kapitel 3-4 verweist auf Feststellungen und Folgerungen, wie sie sich aus der allgemeinen graphischen Entwicklungsstruktur ableiten lassen.
Zur Illustration findet sich im Bildarchiv in Band 2 eine umfangreiche Zusammenstellung von Bildern (Menüeintrag «Bilderserien – Allgemeine Entwicklungsstruktur»). Die Erläuterung der Herleitung der illustrierenden Bilder findet sich in der Information zur Zusammenstellung.