Europa
Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass wir die Ausdrücke «Zeichen» und «Bild» in einer Weise benutzen, welche unserer Interpretation nach der Auffassung von Peirce entspricht (vgl. Kapitel 2-1-01).
Die Definition des Zeichens nach Peirce geht von der oft als «klassisch» bezeichneten Formel «aliquid stat pro aliquo» aus und erweitert diese um ein Drittes: «Ein Zeichen ist etwas, das für einen Geist für ein anderes Ding steht» (Peirce, 2000, Bd. 1, S. 188). In der Bezugnahme auf die «klassische» Formel unterscheidet sich Peirce kaum von anderen Autoren, sehr wohl aber in der Auslegung einzelner zentraler zeichen- und bildtheoretischer Aspekte. Für die Frage, ob frühe graphische Äusserungen als Zeichen aufzufassen und zu behandeln sind, betrifft dies insbesondere die Aspekte der Repräsentation (Darstellung), der Ähnlichkeit, der Kommunikation und der Konvention. Deshalb sei auf sie im Folgenden näher eingegangen. Zugleich sei auf entsprechende begriffliche Unklarheiten hingewiesen, wie sie in der Literatur häufig anzutreffen sind.
Ein Zeichen ist gemäss Peirce grundsätzlich eine Repräsentation oder Darstellung (englisch «representation»): «Was ist ein Zeichen? Es ist alles, was auf irgendeine Weise ein Objekt darstellt» (Peirce, 2000, Bd. 1, S. 422). Diese allgemeine Funktion umfasst verschiedene Arten von Darstellungen. Ein Abbild (beispielsweise ein Filmdokument einer Szene, in welcher ein starker Wind zu sehen ist) stellt ein Objekt (im vorliegenden Falle den Wind) grundsätzlich in gleicher Weise dar (als ein Zeichen) wie ein so genannter «Index» (beispielsweise ein sich nach dem Wind ausrichtender Luftsack am Anfang einer Piste eines Flughafens) oder ein Wort (beispielsweise «Wind»). – In der Literatur wird die Darstellung (englisch «pictorial representation», «depiction») aber häufig gleichgesetzt mit einer Abbildung und zugleich abgehoben von der verbalen Bezeichnung oder Beschreibung («description»). Dies führt zu einer ersten begrifflichen Unklarheit.
Ein Zeichen kann gemäss Peirce wie oben angedeutet in drei verschiedenen Beziehungen zu dem Objekt stehen, welches es darstellt. Ein Zeichen ist entweder dem dargestellten Objekt ähnlich (ikonisches Zeichen oder Ikon) oder es steht mit Letzterem in einer tatsächlichen Verbindung (indexikalisches Zeichen oder Index) oder es bezieht sich auf Letzteres gemäss einer Gewohnheit oder einem Gesetz (symbolisches Zeichen oder Symbol). Ähnlichkeit beschränkt sich dabei nicht auf «Abbild realer Figuren, Gegenstände, Szenen oder Ereignisse», auch dann nicht, wenn Fiktionen hinzugenommen werden. Ein Bleistiftstrich, der eine geometrische Linie darstellt, ist in gleichem Masse ein Zeichen, welches sich auf sein Objekt über Ähnlichkeit bezieht, wie ein gemaltes Abbild einer Person oder einer Szene. Gemäss Peirce ist derart jede gezeichnete oder gemalte «abstrakte» Form als ähnlich zu der Idee, welche sie darstellt, zu bezeichnen. Entweder man unterscheidet deshalb für Bilder «Ähnlichkeit» und «Abbild», indem Ersteres weit mehr umfasst als Letzteres, oder man klärt die jeweils verwendeten Ausdrücke in anderer Weise. – In der Literatur wird «Ähnlichkeit» häufig nur in Hinsicht auf «Abbildung von realen oder fiktiven Figuren, Gegenständen, Szenen oder Ereignissen» abgehandelt. Zugleich wird aber in der Regel auf die Peirce'schen Ausdrücke «Ikon» und «ikonisch» Bezug genommen. Dies führt zu einer zweiten begrifflichen Unklarheit.
Eine Kommunikation «in üblichem Sinne», das heisst eine Kommunikation zwischen zwei Menschen, ist gemäss Peirce keine Bedingung für ein Zeichen (siehe insbesondere Peirce, 2000, Bd. 2, S. 335 und 336, Bd. 3, S. 163). Die Beziehungen von Zeichen untereinander, und mit ihnen das Verstehen von Zeichen, kann genauso eine Erscheinung eines «Geistes» oder «Bewusstseins» eines einzelnen Menschen sein, wie es eine entsprechende Erscheinung zweier oder vieler Menschen sein kann. – In der Literatur wird die Kommunikation häufig nur in dem oben erwähnten «üblichen Sinne» als Kommunikation zwischen zwei Menschen abgehandelt und zugleich als Bedingung für Zeichentätigkeiten gesetzt. Dies führt zu einer dritten begrifflichen Unklarheit.
Konvention, das heisst die Regelung der Beziehung zwischen einem Zeichen und dem dargestellten Objekt durch eine einzelne konkrete Kultur, welche sich abhebt von der Regelung durch eine andere Kultur, ist gemäss Peirce wiederum keine Bedingung für ein Zeichen. Der Bereich der Zeichen ist grösser als derjenige kultureller Regelungen und entsprechender Codes (Peirce, 1993, S. 124; 2000, Bd. 1, S. 255 und 256, Bd. 2, S. 273, Bd. 3, S. 471). Dies bedeutet zugleich, dass Vermittlung im Sinne eines Lehrverhältnisses keine Bedingung für Zeichen darstellt. Zeichen mögen in jeder Hinsicht gelernt sein, sie sind aber nicht immer gelehrt, vermittelt. – In der Literatur wird Konvention als konkrete kulturelle Regelung mit entsprechenden Codes, welche sich von einer anderen kulturellen Regelung mit anderen Codes grundsätzlich unterscheidet, häufig als Bedingung für jede Zeichentätigkeit gesetzt. Auch dies fügt sich zu den begrifflichen Unklarheiten hinzu.
Diese vier in der Literatur selten differenzierten und näher erläuterten Aspekte gehen oft einher mit entsprechenden Verengungen von theoretischen Abhandlungen und konkreten Untersuchungen – und in der Folge auch mit einer Verengung der Praxis der Ästhetischen Bildung. Graphische Äusserungen, welche nichts abbilden, welche kein Bestandteil einer Kommunikation zwischen zwei Menschen im engeren Sinne sind und für welche weder eine Vermittlung im Sinne eines konkreten Lehrverhältnisses noch eine Nachahmung nachgewiesen werden kann – solche Äusserungen gelten in der Folge weder als Bilder noch als Zeichen und werden gleichsam aus den Überlegungen und Untersuchungen ausgeblendet und in der Praxis marginalisiert.
Doch für frühe graphische Äusserungen ist all dies einzufordern:
Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen werden hier frühe Zeichnungen und Malereien unabhängig von ihrem Abbildcharakter sowohl als vollwertige Zeichen und ebensolche Bilder wie als Manifestation eines Denkens aufgefasst. Das erste Kriterium für ein bildhaftes Zeichen, für ein Bild, für eine Repräsentation bezieht sich nicht auf einen möglichen «gegenstandsanalogen» oder aber konventionellen Charakter einer graphischen Äusserung, sondern auf den Nachweis, dass sich unser Verständnis der zur Frage stehenden Erscheinung nicht erschöpft in physikalischen oder physiologischen Aspekten – dass wir sie erst dann als graphische Äusserung wahrnehmen, wenn eine zusätzliche, auf das Flächige bezogene bildhafte Erkenntnis ins Spiel kommt.