Europa
Wie Kinder frühe Bilder wahrnehmen, empfinden, erkennen und beurteilen – eigene wie fremde – ist nur teilweise und bruchstückartig zu erfassen. Eine verlässliche Einschätzung der grundsätzlichen und allgemeinen Einstellung der Kinder zu frühen Bildern bleibt den Erwachsenen hingegen verwehrt.
Wie die Erwachsenen solche Bilder selbst wahrnehmen, empfinden, erkennen und beurteilen, ist direkt abhängig von ihrem kulturellen Kontext im Allgemeinen sowie von ihrer sozialen Stellung, ihrer Bildung und der Art ihrer konkreten Beschäftigung mit frühen Zeichnungen und Malereien. So kommt es, dass wie erwähnt noch bis vor kurzem in bestimmten Regionen Indonesiens die Kinder im Vorschulalter bestraft wurden, wenn sie mit Papier und Stiften hantierten, während zur gleichen Zeit viele Eltern in Europa ihre Kinder zum Besuch von Malateliers aufforderten. So kommt es auch, dass heutzutage viele Eltern in Europa frühe Bilder aufhängen, obwohl sie, wenn die Bilder nichts abbilden, wenig mehr als unterschiedsloses «Gekritzel» erkennen. (Sie fragen denn ihre Kinder auch fortlaufend, was die Bilder darstellen würden.) Denn es bedarf einer Übung des Anschauens und Unterscheidens wie auch einer grundsätzlichen Beschäftigung mit Bildern als solchen, um zu verstehen, dass nicht jedes Bild ein Abbild ist und dass das Ungelenke in frühen Bildern kein Anzeichen fehlender bildhafter Intention und Differenzierung darstellt.
Beide Feststellungen lassen vermuten, dass sich Wahrnehmungen, Empfindungen, Verstehensweisen und Beurteilungen früher Bilder durch Kinder und Erwachsene in der Regel nicht nur nicht decken, sondern in gewichtigen Anteilen unvermittelt bleiben.
Diese Ausgangslage bietet sich der Erörterung der Ästhetik früher Bilder, der Erörterung der Frage nach der Wertung des Bildhaften in seiner Wahrnehmung und Auffassung.
Trotz der grundsätzlichen Schwierigkeit, auf die Frage einzugehen, seien einige Vermutungen in Form von Thesen vorgetragen, zu welchen wir uns auf Grund der vorliegenden Studie wie auch auf Grund von Beobachtungen des frühen graphischen Prozesses (Ergebnisse unveröffentlicht) veranlasst sehen.
Erstens – die Ästhetik bezieht sich zunächst auf ein Produkt im Prozess, bevor sie sich auf ein Produkt als solches erweitert: Frühe Bilder sind häufig Überbleibsel additiv gesetzter einzelner graphischer Formen oder Formkonstellationen. Dieses Aneinanderreihen verfolgt entweder keinerlei übergreifende Absicht oder Beweggründe entstehen erst aus konkreten Momenten des Bildprozesses selbst. Letztere sind aber nicht als bildhafte Intention ausgeführt und deshalb nachträglich anhand des Bildes auch nicht mehr erkennbar. Im Übrigen scheinen viele Kinder jedes Interesse an den Zeichnungen und Malereien zu verlieren, wenn sie die Stifte oder Pinsel weglegen. Dies verweist darauf, dass die Wertung des Bildhaften ihren Ausgang im Geschehen des Bildprozesses nimmt.
Zweitens – die Ästhetik bezieht sich zunächst auf das Graphische für sich, bevor sie sich auf die Verhältnisse zu Nicht-Graphischem erweitert: Früheste bildhafte Erscheinungen sind «bloss» formal oder «abstrakt». Sie lassen keine Beziehungen zu anderem erkennen. Dies verweist darauf, dass die Wertung des Bildhaften ihren Ausgang beim «Abstrakten» nimmt.
Drittens – die Ästhetik bezieht sich zunächst auf einzelnes Bildhaftes, bevor sie sich auf das ganze Bild erweitert: Wie oben erwähnt sind frühe Bilder häufig Konglomerate, Überbleibsel aneinander gereihter einzelner graphischer Formen oder Formkonstellationen. Das Bild im Sinne einer erkennbaren graphischen Intention, welche die gesamte Bildfläche durchgängig organisiert, ist eine Errungenschaft, welche sich erst im Laufe der graphischen Entwicklung manifestiert. Dies verweist darauf, dass die Wertung des Bildhaften ihren Ausgang bei den einzelnen Erscheinungen für sich, bei «lokalen» Erscheinungen, nimmt.
Viertens – die Ästhetik bezieht sich zunächst auf eine Wertung des bildhaft Produzierten für sich, bevor sie sich auf eine Wertung der Art und Weise, wie das Bildhafte erzeugt wurde und dann erscheint, erweitert: Die erste zu bewältigende Anforderung des Bildhaften ist seine Erschliessung selbst. Die Beobachtung der graphischen Entwicklung zeigt dies in eindrücklicher Weise. Die Aspekte des Könnens und der Virtuosität der Ausführung stellen erneut Errungenschaften dar, welche sich erst im Laufe der graphischen Entwicklung manifestieren, sowohl in Hinsicht auf das Formale wie auf die Realisation von Verhältnissen zu Nicht-Graphischem. Dies verweist darauf, dass die Wertung des Bildhaften ihren Ausgang bei den bildhaften Erscheinungen als solchen nimmt.
Die frühe Ästhetik, die frühe Wertung des Bildhaften, bezieht sich weder auf das Schöne noch auf das Richtige, sondern auf das flächig Produzierbare und Verstehbare selbst. In diese Formel münden die vier Thesen. Die Erfahrung, dass das Graphische überhaupt entstehen und bestehen kann, dass es produzierbar, erkennbar, unterscheidbar, entwickelbar ist, die Erfahrung der sich dabei ergebenden konkreten Möglichkeiten, Eindrücke und Empfindungen, mit eingeschlossen die sich eröffnenden Bezugnahmen zu anderem als Bildhaftem selbst – diese Erfahrung selbst ist zunächst Gegenstand der Wertung des Bildhaften.
Gemäss einer solchen Auffassung ist die frühe bildhafte Erkenntnis also unterschiedslos der frühen bildhaften Ästhetik gleichzusetzen. Die frühe Erkenntnis des Bildhaften ist zunächst dasselbe wie seine wertende Wahrnehmung und Empfindung. Erst im Laufe der graphischen Entwicklung eröffnet sich – als eine Errungenschaft – die Möglichkeit, das Bildhafte in verschiedene wahrgenommene, empfundene und bewertete Qualitäten zu gliedern.
Wann immer vom Formalen als eigenständiger Erscheinung, vom so genannt «Abstrakten», die Rede ist, entsteht die Schwierigkeit, seine «Bedeutung» abzuhandeln. Dies gilt ganz besonders für das Formale früher Bilder. Auch wenn im Rahmen der vorliegenden Studie nicht näher auf diese Frage eingegangen wird, so seien dennoch die nachfolgenden Bemerkungen beigefügt, in der Absicht, auf die Gefahr einer Isolation «abstrakter» bildhafter Erscheinungen von Empfindungen, Gefühlen, Vorstellungen, Assoziationen, Phantasien, Überlegungen und so weiter aufmerksam zu machen.
Viele Kinder zeigen grosses Interesse am Formalen, bringen eine entsprechend hohe Ausdauer beim Zeichnen und Malen auf und differenzieren das Formale schon früh in eine kaum überschaubare Vielfalt, bis hin zu einem eigenständigen Bildcharakter im Sinne einer «abstrakten» Komposition, welche das ganze Bild organisiert. Diese Beobachtungen verweisen einerseits auf eine «Bedeutung» des «Abstrakten» als solchem, für sich, andererseits aber auch auf mit ihm verbundene oder bei der Produktion mit auftretende psychische Abläufe. Dass Letztere verbal schwer zu beschreiben sind, sollte aber nicht dazu verleiten, sie zu missachten. Im Gegenteil sollten diese Beobachtungen die Aufmerksamkeit auf das Formale und seine «Bedeutung» geradezu schärfen und dazu herausfordern zu verstehen, wie es dazu kommt, dass das, was wir häufig als «ornamental» und also zweitrangig auffassen, in der graphischen Entwicklung sowohl den Anfang ausmacht wie sich eigenständig entwickelt, ohne dass die Bilder dabei eine «verzierende» Rolle einnehmen müssten. Vielleicht, dass die Schwierigkeit, die «Bedeutung» des «Abstrakten» verbal zu erörtern, auf eine entsprechende eigenständige und uneinholbare Potenz des Bildhaften verweist, seinerseits «zu bedeuten». Wie ja die Tatsache, dass die Musik sich oft weder auf anderes Hörbares noch auf anderes in einfacher Weise verbal Bezeichenbares bezieht, in keiner Weise ihre «Bedeutung» und ihren Rang schmälert. Weshalb sollte das bildhafte «Abstrakte» also nicht eine ähnliche Einschätzung und Wertschätzung erfahren, ja einfordern dürfen.