Europa
Der vorliegende Klassifikationsapparat ist das Ergebnis von drei vorbereitenden Untersuchungen. Als Erstes versuchten wir, anhand unserer Vorerfahrungen und anhand zweier konkreter Sammlungen diejenigen Bildmerkmale zu bestimmen und voneinander zu unterscheiden, von welchen wir erwarteten, dass sie in frühen graphischen Äusserungen häufig erscheinen oder sich für die Beschreibung früher Bilder besonders eignen könnten. Gleichzeitig dazu untersuchten wir Merkmallisten in ausgewählter Literatur zur Thematik früher graphischer Äusserungen und korrigierten beziehungsweise erweiterten die unsrige. Als Zweites beurteilten wir die mögliche Anwendung von Ausdrücken, welche in der Literatur für Bilder ganz allgemein häufig verwendet werden, und überarbeiteten unsere Merkmalliste. Zuletzt bemühten wir uns, erste grobe systematische Beziehungen der Merkmale untereinander herzustellen, im Sinne einer hierarchischen Ordnung. – In der Erwartung, dass bei jeder konkreten Klassifikation Zuordnungsschwierigkeiten auftreten, wurden dem so entstandenen Katalog unspezifische Merkmalkategorien hinzugefügt, um während der konkreten Zuordnung zusätzliche Differenzierungen zu ermöglichen (vgl. Kategorien mit den Bezeichnungen «Andere ...»). – Während der Verschlagwortung selbst ergab sich aus den Schwierigkeiten bestimmter Zuordnungen zu einzelnen der im Voraus festgelegten Kategorien das Bedürfnis, Vorformen oder Umfelder von festgelegten Bildmerkmalen mit zu verschlagworten. Aus diesem Grunde wurden dem regulären Merkmalkatalog während der Verschlagwortung Hilfskategorien beigefügt.
Die vollständige, kommentierte und illustrierte Darstellung des Apparats bildet einen der zentralen Teile des dritten Bandes. Die hier nachfolgende Erläuterung des Apparats beschränkt sich, im Sinne einer Reduktion und Konzentration, auf die wichtigsten Formulierungen, welche zum Verständnis von Oberkategorien und Einzelmerkmalen nötig sind. Die Erläuterung bezieht sich dabei sowohl auf die regulären Kategorien, welche vor der konkreten Verschlagwortung der Längsschnittstudien festgelegt wurden, wie auf die Hilfskategorien, welche während der konkreten Verschlagwortung entstanden.
Im Verlaufe der Untersuchung der Bilder ergaben sich zudem Erfahrungen und Überlegungen für weitere eigenständige Kategorien, welche in der Verschlagwortung nicht berücksichtigt wurden, für zukünftige Studien aber sinnvoll sein können. Diese Kategorien werden in Band 3 zusammen mit den untersuchten Bildmerkmalen näher erläutert.
Zur Illustration des Katalogs wurden spezielle Bildausschnitte ausgewählt und aufbereitet, im Sinne sehr deutlicher und leicht erkennbarer Bildbeispiele für jeweils ein Merkmal oder einen Typus früher graphischer Erscheinungen (vgl. dazu die entsprechenden Erläuterungen in Kapitel 2-5). Diese Typenbilder finden sich in digitaler Form im Bildarchiv von Band 2 (Menü «Archivstruktur - Kategorien - Merkmalkatalog für Typenbilder») und in gedruckter Form in Band 3.
Für die Einsicht in konkrete Bilder und zugleich in den möglichen Variationsbereich der Merkmale empfiehlt sich die Visionierung der verschlagworteten Bilder selbst (Band 2, Bildarchiv, Menü «Archivstruktur - Kategorien - Merkmalkatalog für Längsschnittstudien»). – Bei der Durchsicht der konkreten Bilder sollte beachtet werden, dass sie in der Regel viele verschiedene und zum Teil ungelenk ausgeführte und vage erscheinende graphische Aspekte enthalten, welche häufig erst nach eingehenderem Studium ersichtlich werden. Eine entsprechende Vorkenntnis der Erläuterungen zu den einzelnen Merkmalen mit den jeweiligen Zuordnungsregeln sowie eine vorgängige Visionierung der Typenbilder ist deshalb erforderlich.
Die Liste von Bildmerkmalen, deren Gliederung in Ober- und Unterkategorien sowie die Regeln für ihre Zuordnung zu den Bildern wird wie bereits deutlich geworden als «Merkmalkatalog» oder «Klassifikationsapparat» bezeichnet. Diese beiden Ausdrücke werden parallel zueinander verwendet.
Die Zuordnung von Bildmerkmalen zu Bildern heisst Verschlagwortung.
Die Ausdrücke «Merkmal» und «Kategorie» werden parallel zueinander verwendet. Einem bestimmten Bildmerkmal, welches beschrieben wird, entspricht eine einzelne Merkmalkategorie. Zusammengehörige Gruppen von Merkmalkategorien werden in ihnen übergeordnete Oberkategorien zusammengefasst.
Das erste Wort eines einzelnen oder zusammengesetzten Ausdrucks, welcher ein Bildmerkmal bezeichnet, wird wie eingangs erwähnt sowohl in den für die empirische Untersuchung benutzten Merkmalkatalogen wie im Lauftext immer grossgeschrieben. Anführungszeichen hingegen fehlen, um deren Häufung zu vermeiden. Eine Ausnahme bilden die Erläuterungen in Teil 3.
Mit Hilfe des hier vorgelegten Klassifikationsapparats soll auf die Frage eingegangen werden können, welche Eigenschaften, Strukturbildungen und Entwicklungstendenzen sich für frühe graphische Äusserungen feststellen lassen. Doch welche Art von Aussagen können dabei erwartet werden? Zu dieser Frage sind einige grundlegende Einschränkungen zu bedenken.
Eine Untersuchung von vorfindbaren Bildern, welche ausserhalb einer im engeren Sinne experimentellen Umgebung entstanden sind und somit im Nachhinein zusammengestellt wurden, kann sich nie auf eine «Vollständigkeit» aller tatsächlich erzeugten Bilder einer Autorin oder eines Autors beziehen. In der Regel kann nicht geprüft werden, welche Bilder noch vorhanden sind und welche nicht. Hinzu kommt, dass Auskünfte von Eltern oder anderen Drittpersonen nicht hinsichtlich aller Einzelheiten verlässlich sein können, weil sie meist auf Erinnerungen basieren, und auf solche ist im vorliegenden Zusammenhang zu wenig Verlass. Die Grundlage einer dokumentarischen Untersuchung bildet derart die (blosse) Tatsache, dass eine bestimmte Anzahl und zeitliche Verteilung von Bildern vorgefunden und reproduziert wurde, verbunden mit allgemeinen Informationen zu den Autorinnen und Autoren sowie einzelnen Bildkommentaren. Darüber hinaus besteht keine weitere Referenz.
Vorhandene Bildkommentare stammen beinahe ausnahmslos von Drittpersonen, meistens von den Eltern. Auch auf sie ist kein anderer Verlass als die Tatsache, dass sie in schriftlicher Form vorhanden sind. Eltern können sich wie erwähnt getäuscht haben, sowohl in der Zuteilung eines Bildes zu einem Kind wie in der Datierung. Und zudem können Kommentare das tatsächlich vom Kind selbst Geäusserte in anderen Worten ausdrücken, mit eingeschlossen mögliche Sinnverschiebungen, oder über jenes weit hinausgehen bis hin zu vollständig eigenen Interpretationen. Der Stellenwert der Bildkommentare ist derart in allgemeiner Weise nicht einschätzbar. Er muss für jedes einzelne Bild und für jeden Kommentar individuell beurteilt werden, wobei Bildkontext und visuell Erkennbares häufig eine zentrale Rolle spielen.
Bilder mit Worten zu beschreiben, auf welche hin sie nicht erzeugt wurden, ist an sich ein schwieriges Unterfangen. Im besten Falle kann man zu Feststellungen von Sachverhalten gelangen, welche anhand eines visuellen Nachprüfens plausibel werden können, welche Thesen formulieren lassen und Erklärungen anbieten. Immer aber müssen die Aspekte der Genauigkeit und der Vollständigkeit während des Vorgehens der Beschreibung eingeschätzt und mit ihnen der Wert von abgeleiteten Aussagen abgeschätzt werden.
Der hier vorgelegte Klassifikationsapparat selbst ist in mehrerer Hinsicht schwer einschätzbar. Sowohl seine innere Struktur wie seine Bedeutung für die konkrete Anwendung stehen, wie sich zeigen wird, mehreren möglichen Kritiken offen:
Die konkrete Anwendung des Katalogs, das heisst die interpretierende Zuordnung von Merkmalen zu einzelnen Bildern, ist grundsätzlich schwierig und nicht in strengem Sinne objektivierbar. Viele Zweifelsfälle ergeben sich bei den Versuchen konkreter Zuordnungen, und für manche Bilder ist kaum eine Übereinstimmung mehrerer verschiedener Personen zu erwarten.
Aussagen, wie sie mit den hier angewandten Mitteln gesucht werden, können derart nur aus einer Auflistung von Feststellungen bestehen, welche sich auf die Interpretation von Bildern beziehen und für welche angenommen wird, sie seien wiederum anhand von denselben oder von anderen Bildern nachvollziehbar. Die Beschreibung eines frühen graphischen «Vokabulars», seiner Entwicklung und seiner Beziehungen zu Nicht-Graphischem gilt dabei immer nur unter folgenden Annahmen:
In dieser Weise werden Feststellungen angestrebt, welche grundlegende Sachverhalte aufzeigen, im Sinne einer Beschreibung eines gewichtigen Teils des tatsächlichen Geschehens und im Versuch, eine Grundlage für die Bildung von allgemeinen Thesen zur Frühzeit des Graphischen zu gewinnen. Darüber hinaus stellen wir keinen weitergehenden Anspruch.